Phytotherapie verbindet die jahrtausendealte Erfahrung traditioneller Heilkräuterkunde mit den Ergebnissen neuzeitlicher Arzneipflanzenforschung. Am Seminar für Integrative Phytotherapie streben wir danach, diese beiden Bereiche sinnvoll zu verknüpfen. Denn wie bereits im Abschnitt „Qualitätssicherung“ ausgeführt wurde, ist Tradition eine wichtige Resource. Sie hat aber nicht immer Recht.

In der Phytotherapie gibt es daher vielfältige Forschungsaktivitäten, um altes Wissen zu überprüfen oder neue Erkenntnisse über Arzneipflanzen zu entdecken. Forschung in der Phytotherapie steht aber oft vor spezifischen Herausforderungen.

Mit diesem Beitrag möchte ich dafür Verständnis wecken. Dabei kann und will ich nicht umfassend und detailliert auf alle Themen eingehen. Ich bin aber überzeugt davon, dass Menschen, die Heilpflanzen-Präparate verschreiben, verkaufen, empfehlen oder einnehmen, davon profitieren, wenn sie über die wichtigsten Aspekte der Forschung in der Phytotherapie informiert sind.


 

Sehr zentral im Verständnis der Forschung in der Phytotherapie ist die Unterscheidung zwischen Laborforschung im Reagenzglas (in-vitro) und klinischer Forschung (Patientenstudien).

Laborforschung im Reagenzglas (in-vitro)

Hier wird nach Wirkstoffen in Arzneipflanzen geforscht. An Zellen oder Geweben wird versucht, die Wirkungsmechanismen der Arzneipflanzen zu verstehen. Das ist wichtige Grundlagenforschung, die oft an Universitäten durchgeführt wird.

Entscheidend für die Beurteilung ist dabei allerdings, dass solche Laborergebnisse noch nichts Sicheres aussagen über entsprechende Wirkungen bei Patienten. Beispielsweise gibt es viele Naturstoffe, die im Reagenzglas starke Effekte auf Krebszellen zeigen und sie zerstören können. Doch stellt sich dabei unter anderem die Frage, ob diese Wirkstoffe auch aus dem Verdauungstrakt resorbiert werden und ob sie eine wirksame Konzentration im Organismus erreichen können, ohne dass gesunde Zellen darunter leiden. Wenn nur auf der Basis von erfolgreichen Laborexperimenten ein neues Krebsheilmittel ausgerufen wird, ist das in der Regel ausgesprochen fragwürdig.

Trotzdem kann die Phytotherapie aus dieser Laborforschung interessante Erkenntnisse gewinnen, sofern die begrenzte Aussagekraft berücksichtigt wird.

Die Laborforschung mit Naturstoffen läuft allerdings in der Regel darauf hinaus, dass ein Wirkstoff aus der Pflanze als Modell genommen, ein wenig umgebaut und dann patentiert wird. Nur mit Patentschutz und dem damit verbundenen Recht auf alleinige kommerzielle Nutzung lassen sich hohe Forschungsaufwendungen wieder hereinspielen. Ein unveränderter Wirkstoff, so wie er in der Pflanze vorkommt, gilt zurecht nicht als Erfindung und lässt sich daher nicht patentieren (patentierbar sind allenfalls Herstellungsverfahren für Pflanzenextrakte). Das schränkt den Nutzen dieser Art von Naturstoffforschung für die Phytotherapie ein. An unveränderten Wirkstoffen, wie sie in der Phytotherapie zur Anwendung kommen, verlieren die meisten forschenden Pharmafirmen rasch das Interesse.

Allerdings kann man diese patentorientierte Forschung den Pharmafirmen nicht zum Vorwurf machen. So ist unsere Wirtschaft und unsere Forschung organisiert. Wer das ändern will, muss die politischen Rahmenbedingungen ändern.

Klinische Forschung (Patientenstudien)

Genau so wie mit anderen Arzneimitteln auch, gibt es mit Heilpflanzen-Präparaten Forschung auf der Basis von Patientenstudien. Allerdings muss man immer genau hinschauen, wenn von „Studien“ oder „wissenschaftlichen Studien“ die Rede ist. Es gibt verschiedene Arten von Studien mit sehr unterschiedlicher Aussagekraft – und solche mit mehr oder weniger Qualität.

 

Oft werden nur epidemiologische Studien präsentiert (das sind noch keine Patientenstudien). Hier werden Bevölkerungsgruppen verglichen, zum Beispiel bezüglich Ernährung oder Verhalten – und dann wird nach Zusammenhängen mit auftretenden oder ausbleibenden Krankheiten gesucht.

Beispielsweise lässt sich so zeigen dass Menschen, die viel Grünteee trinken, weniger an Karies leiden als Menschen, die wenig oder gar keinen Grüntee konsumieren. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass Grüntee gegen Karies schützt. Doch solche Schlüsse werden aus epidemiologischen Studien oft vorschnell gezogen. Nicht auszuschliessen ist nämlich, dass für die beobachteten Effekte andere noch unbekannte Faktoren auslösend sind. Beispielsweise könnte es sein, dass Grüntee-Trinker weniger Karies haben, weil sie weniger zuckerhaltige Süssgetränke zu sich nehmen. Dann wären die beiden festgestellten Tatsachen – tiefe Kariesrate und hoher Grüntee-Konsum – nicht direkt ursächlich verbunden. Epidemiologische Studien können daher niemals eine ursächliche Wirkung einwandfrei belegen, auch wenn das manchmal so dargestellt wird. Sie geben allenfalls Hiweise auf mögliche Wirkungen.

Dann gibt es Anwendungsbeobachtungen (Beobachtungsstudien) an Patienten. Ihre Aussagekraft ist ebenfalls sehr begrenzt. Sie werden häufig eher zu Marketingzwecken durchgeführt und eingesetzt. Wenn Ärzte für die Durchführung Honorare bekommen, werden sie in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflusst.

Krasses Beispiel:

100 Kinder mit fieberhafter Erkältung bekommen beim Kinderarzt ein Präparat mit Eupatorium-Extrakt (Wasserdost). Bei der Folgekonsultation nach 7 Tagen sind über 90% der Kinder fieberfrei, was der Hersteller als Behandlungserfolg darstellt.

Siehe: Wasserdost-Präparat gegen Erkältungen getestet

Unter den Tisch fällt hier schlichtweg, dass wohl auch über 90% der Kinder ohne Behandlung nach 7 Tagen fieberfrei gewesen wären. Eine Kontrollgruppe, die ein Placebo (Scheinmedikament) bekommt, würde aufzeigen, dass der angebliche Behandlungserfolg einfach dem natürlichen Verlauf entspricht.

Beobachtungsstudien sind verhältnismässig einfach und billig durchzuführen, können aber eine Wirksamkeit niemals belegen, weil sie den natürlichen Verlauf und den Placebo-Effekt nicht von der spezifischen Wirksamkeit des Präparats trennen können.

Randomisierte Doppelblind-Studien haben zum Ziel, genau diese Trennung zu leisten.

Hier gibt es eine Kontrollgruppe, die ein Placebo bekommt. Weder die Testperson noch die Studienärzte dürfen wissen, wer das echte Präparat (Verum) bekommt und wer das Placebo. Die „Doppelblindheit“ ist wichtig, weil die Ergebnisse von Studien verfälscht werden, wenn Studienärzte und –ärztinnen wissen, wer ein Placebo bekommt und wer ein Verum. Die Präparate würden aufgrund dieses Wissens, mit unterschiedlicher Überzeugungskraft abgegeben.

Ausserdem muss per Zufall (Losentscheid) bestimmt werden, wer zur Placebo-Gruppe gehört und wer ein Verum bekommt (= Randomisierung). Würden die Studienärzte die Probanden ohne Losentscheid den Gruppen zuteilen, könnten sie bewusst oder unbewusst zum Beispiel die schwereren Fälle der Placebo-Gruppe zuordnen, wodurch die Verumgruppe fälschlicherweise besser abschneiden würde.

Randomisierte Doppelblind-Studien werden mit unterschiedlichem Ziel durchgeführt, abhängig von der Phase in der Entwicklung eines Arzneimittels:

– Kleinere Studien mit etwa 50 – 200 Teilnehmenden dienen der Überprüfung des Therapiekonzepts und der Dosisfindung (Phase II-Studie, „Pilotstudie“). Sie liefern keinen sicheren Beleg für Wirksamkeit, insbesondere deshalb, weil sie nicht auf diesen Nachweis ausgerichtet sind und weil die Zahl der Probanden aus statistischer Sicht zu klein ist. Mit Pilotstudien soll oft auch geklärt werden, ob die Investition in grössere und teurere Studien sich lohnt. In den Medien werden die Ergebnisse von Pilotstudien oft überzogen als beweisend dargestellt, was sie aber nicht sind. Daher sollte man immer genau nachfragen, um was für eine Studie es sich handelt, wenn wieder eimmal verkündet wird: „Eine neue Studie hat gezeigt….“.

– Grössere Phase III-Studien umfassen etwa 200 – 10 000 Probanden und zielen auf einen Wirksamkeitsnachweis, der zu einer Markzulassung als Arzneimittel führen kann. Sie sind wesentlich aufwendiger und teuerer als Pilotstudien. Ausserdem braucht es dazu gute Kontakte zum medizinischen System (Klinken, Universitäten, Arztpraxen).

Diese Bedingungen sind für kleinere Hersteller von Phytopharmaka schwierig zu stemmen.

Zudem reicht eine einzige Phase III-Studie noch nicht wirklich, um die Wirksamkeit einwandfrei zu belegen. Die positiven Resultate müssten von einer unabhängigen, anderen Forschungsgruppe in einer separaten Studie bestätigt werden.

– Am höchsten bewertet werden sogenannte Metastudien (Meta-Analysen, systematischen Übersichtsarbeiten). Ihnen wird die grösste Beweiskraft für den Nachweis einer therapeutischen Wirksamkeit zugeschrieben. Sie kombinieren eine Vielzahl von Studien zu einer Zusammenschau. Die Resultate von bereits vorliegenden Studien zu einem bestimmten Arzneimittel werden also verglichen und als Gesamtheit ausgewertet. So lassen sich Schwächen einzelner Studien ausgleichen und widersprüchliche Ergebnisse gewichten. Als größter Herausgeber von systematischen Übersichtsarbeiten in der Medizin gilt die Cochrane Collaboration.

Detaillierte Informationen über die verschiedenen Arten von klinischen Studien gibt es hier auf Wikipedia und in diesem Erklärvideo “Wie funktioniert eine klinische Studie?” (5 Minuten).

Die Beschreibung der verschiedenen Studientypen gilt selbstverständlich nicht nur für pflanzliche, sondern auch für alle anderen Arzneimittel.

Besondere Hürden für die Phytotherapie-Forschung

Darüber hinaus gibt es für die klinische Forschung in der Phytotherapie aber noch besondere Hürden:

– Geld in klinische Forschung zu investieren lohnt sich nur für patentierte Präparate. Im Bereich der Phytopharmaka sind das vor allem Pflanzenextrakte, deren Herstellungsverfahren unter Patentschutz steht. Da sich diese Präparate durch ihr Herstellungsverfahren von der Konkurrenz unterscheiden, gelten die Ergebnisse der Studien nur für das untersuchte Produkt. So kommen die Forschungsergebnisse demjenigen Hersteller zugute, der die Studien finanziert hat. Das hat aber zur Folge, dass beispielsweise Kräutertees als einfache, jedoch oft durchaus wirksame Zubereitungsform kaum je mit Studien untersucht werden.

– Aus Arzneipflanzen werden sehr unterschiedliche Präparate hergestellt, die sich zum Beispiel im Wirkstoffgehalt fundmental unterscheiden können. So lassen sich die Studien zu einer bestimmten Arzneipflanze oft nur schwer in einer Metastudie zusammenfassen, weil die dabei untersuchten Präparate zu heterogen sind. Beispielsweise gibt es bei Echinacea-Präparaten sowohl alkoholische Auszüge als auch Presssäfte. Diese Präparate unterscheiden sich möglicherweise deutlich bezüglich Wirkstoffen und Wirksamkeit. So kann man nur begrenzt alle Echinacea-Studien in einer Meta-Studie zusammenfassen. Jeder Hersteller muss den Beleg für die Wirksamkeit seines Produkts selber erbringen und finanzieren. Ein weiteres Beispiel sind Preiselbeer-Präparate: Hier gibt es derart viele verschiedene Zubereitungsformen (Saft, Tabletten, Extrakt, Granulat) mit unterschiedlichem Wirkstoffgehalt, dass daraus kaum generelle Schlüsse gezogen werden können.

– Zu Heilpflanzen-Präparaten gehört manchmal auch eine sinnliche Komponente (Geruch, Duft). Dadurch kann die Verblindung erschwert sein. Für frischen Knoblauch lässt sich kein Placebo herstellen, das so aussieht und riecht wie Knoblauch. Selbst bei einer Knoblauchkapsel wird sich in entsprechender Dosierung eine gewisse Ausdünstung einstellen und jeder Beteiligte – ob Proband oder Studienarzt – wird feststellen können, ob die Versuchsperson in der Placebogruppe oder in der Verumgruppe ist. Auch bei ätherischen Ölen ist eine Verblindung kaum möglich.

Dass solchen Studien dann wegen mangelhafter Verblindung schlechte Qualität zugeschrieben wird ist zwar nachvollziehbar, liegt aber im Verfahren begründet. Für eine sinnlich neutrale Tablette lässt sich einfacher ein identisch daherkommendes Placebo produzieren. Für die Phytotherapie gehört diese sinnliche Komponente aber in manchen Fällen zum „Gesamtpaket“.

– Weil ein „wasserdichter“ Patentschutz für Phytopharmaka schwierig zu erreichen ist, existieren viele Trittbrettfahrer. Das heisst: Es gibt Hersteller, die Forschungs- und Entwicklungsarbeit leisten und es gibt Hersteller, die solche Forschungsergebnisse von anderen übernehmen und auf ihre eigenen Präparate übertragen, ohne selber in Forschung und Entwicklung zu investieren. Das klappt oft gut, weil die Konsumenten nicht informiert sind und auch in Apotheken und Drogerien nicht über relevante Qualitätssunterschiede ins Bild gesetzt werden.

Beispiel: Mehrere Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln haben viel investiert in die Forschung und Entwicklung von Johanniskraut-Präparaten zur Behandlung von leichten und mittelschweren Depressionen. Dadurch konnte für eine Reihe von Johanniskraut-Extrakten die Wirksamkeit belegt werden. Es gibt Hersteller, die diesen von forschenden Phytopharmaka-Herstellern geschaffenen Ruf für ihre eigenen Zwecke nutzen und selber Johanniskraut-Präparate verkaufen, die kaum Wirkstoffe enthalten. Das zeigte sich zum Beispiel als die Zeitschrift „Gesundheitstippp“ (Ausgabe November 2015) verschiedene Johanniskrautpräparate auf ihren Wirkstoffgehalt analysieren liess. Johanniskraut-Präparate wie Jarsin, Rebalance, Hyperiforce und Hypericum 650 Sandoz, deren Wirksamkeit auch durch klinische Studien belegt ist, wiesen zwar unterschiedliche, aber doch potente Wirkstoffgehalte auf. Dagegen fanden sich in Dr. Andres Johanniskraut-Kapseln und in der Ceres Johanniskraut-Tinktur (Hypericum), für die keine Studien existieren, auch nur Wirkstoffe im minimalsten Spurenbereich.

Dass den Konsumentinnen und Konsumenten solche Unterschiede in der Regel nicht bewusst sind, und dass Apotheken und Drogerien solche Unterschiede in der Regel auch nicht kommunizieren, schadet den forschenden Phytopharmaka-Herstellern und nützt den Trittbrettfahrern.

– Viele pflanzlichen Produkte kommen inzwischen als Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt. Für Nahrungsergänzungsmittel müssen die Hersteller keine Wirksamkeit nachweisen. Dadurch fehlt jeder Druck und weitgehend auch die Motivation, um aufwendige und teure Studien durchzuführen, die für den Marktzugang bei Nahrungsergänzungsmitteln schlicht nicht nötig sind. Auch die viel teureren und aufwendigeren regulativen Vorschriften der Arzneimittel-Behörden müssen die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln nicht erfüllen.

Diese Umstände machen es für die Hersteller pflanzlicher Präparate attraktiv, eine Zulassung als Arzneimittel gar nicht anzustreben, sondern einen Marktzutritt als Nahrungsergänzungsmittel ins Auge zu fassen. Dadurch wird weniger in die Forschung investiert.

Diese Entwicklung wirkt sich für die Phytotherapie negativ aus. Wir brauchen kompetente Phytopharmaka-Hersteller, die den Forschungs- und Entwicklungsaufwand nicht scheuen und ihre Präparate als Arzneimittel positionieren.

Abschliessende Bemerkungen zur Forschung in der Phytotherapie

Phytotherapie besteht nicht nur aus Forschungsergebnissen. Sie hat eine kulturell-historische Seite, die sorgfältige Auseinandersetzung verlangt. Sie spricht oft die Sinne an und vermittelt Geschmackseindrücke und Dufterlebnisse. Sie integriert mit ihren Anwendungsformen oft Aspekte von Zuwendung und Ritual, die zur Wirksamkeit beitragen können.

Trotzdem wäre es töricht, die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung in der Phytotherapie zu vernachlässigen. Sie helfen bei der Überwindung von Irrtümern und bringen mehr Klarheit in die Empfehlungen. Genauso wie die traditionellen Überlieferungen müssen auch Forschungsergebnissen kritisch auf ihre Aussagekraft unter die Lupe genommen werden. Für die Weiterentwicklung einer innovativen, sicheren und wirksamen Phytotherapie ist seriöse Forschung von entscheidender Bedeutung. Deshalb ist es auch wichtig, Hersteller von Phytopharmaka zu unterstützen, die in Forschung und Entwicklung investieren – und nicht nur Trittbrettfahrer.

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie

Seminar für Integrative Phytotherapie

Winterthur (Schweiz)

www.phytotherapie-seminare.ch

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